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Er darf nicht sterben!

Ich liege auf der Intensivstation. Meine starken Schmerzen lassen mich kaum eine Stunde einnicken. Vor mir ist ein großes Pult. Hier werden alle Infusionen vorbereitet. Ich sehe auch auf die Eingangstür. Aber nur wenn der Vorhang etwas beiseite geschoben ist. Heute ist mein Blick frei. Ein sportlicher Herr, etwa 60 Jahre kommt herein. Offensichtlich ist er Patient. Sein Bett ist hinter den Überwachungsgeräten an meinem Kopfende. Er hat viel Blut verloren. Das entnehme ich aus den Gesprächen. Konserven werden vorbereitet und verabreicht. Später wird er zur Gastroskopie geholt. Er geht natürlich zu Fuß. Etwa eine Stunde vergeht. Im Dienstzimmer wird es plötzlich hektisch. Es gibt einen Notfall. Die Ärzte verlassen schnell den Raum. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Kurz darauf kommen die Ärzte im Laufschritt mit einem Bett bei der Tür herein. Sie fahren auf den freien Platz hinter mir. Das kann doch nicht wahr sein! Mein flotter Mitpatient hat auf das Schlafmittel allergisch reagiert. „Ich bring ihn einfach nicht hinein!“ höre ich einen Arzt stöhnen. Ich kombiniere. Er meint den Tubus. Ein kurzes Telefonat folgt. Ein anderer Arzt kommt dazu. Plötzlich schreit einer: „Er geht weg!“ Schnell werden Injektionen geholt. Scheinbar gibt es kurz wieder einen Puls. Dann ist er wieder weg. Noch eine Injektion. Ich spüre die Anspannung beim Ärzteteam. Auch ich bin angespannt. Er darf nicht sterben. Er ist zu jung dafür. Nach einiger Zeit vernehme ich Ruhe. Es ist vorbei. Sie haben den Patienten nicht retten können. Sehr deprimiert gehen alle weg. Im Dienstzimmer wird leise das Geschehen analysiert. Ich liege neben dem Dienstzimmer. Die Tür ist offen. Das Team spricht leise. Das ist gut so.

Mir gegenüber liegt eine Frau. Ich kenne nur ihre Stimme. Die Vorhänge trennen uns voneinander. Sie verliert auch immer Blut. Wieder wird eine Konserve für sie vorbereitet. Es ist schon die über zehnte. Sie hat also schon ihr ganzes Körperblut verloren. Ich habe Angst. Sie darf nicht sterben. Noch einen Todesfall neben mir halte ich nicht aus. Sie betreut zuhause ihre behinderte Tochter. Immer redet sie vom Heimgehen. Sie muss zu ihrer Tochter. Ich höre die Untersuchungsergebnisse. Wieder eine Blutung. Noch einmal muss das Geschwür im Magen verödet werden. Mit jeder Konserve, die sie bekommt, steigt meine Angst. Mir geht es besser. Ich sitze im Bett. Die Vorhänge sind zurück geschoben. Meine Mitpatientin und ich haben endlich Blickkontakt. Sie winkt mir. Ich winke zurück. Sie freut sich sehr über meine Besserung. Sie hat mit mir gelitten, weil ich so unerträgliche Schmerzen hatte, sagt sie. Zwischen uns ist eine Beziehung entstanden. Ohne uns zu sehen. Ich male mein Bild auf der Intensivstation fertig. Mein Leibstuhl ist die Staffelei. Meiner Mitpatientin gefällt es. Ich werde auf die Normalstation entlassen. Meine Mitpatientin geht mir nicht aus den Kopf. Hoffentlich kann sie das Krankenhaus lebend verlassen.