Drucken

Der letzte 2000er

Ich schlafe gut und ausreichend. Dennoch bin ich seit Tagen sehr müde. Heute habe ich frei. Die Sehnsucht nach einem Berggipfel verdrängt die Müdigkeit.  Das 2500 m hohe Warscheneck ruft. Diese Tour ist am besten mit einer Übernachtung auf der Hütte zu bewältigen. Zumindest habe ich das gehört. So viel Zeit habe ich nicht. Ich gehe soweit ich komme. Das ist mein Vorsatz. Natürlich bin ich alleine unterwegs. Wie immer. Dieses Mal auch ohne meinen Hund. Meine kleine Puli-Dame könnte Probleme bekommen. Sie verträgt Hitze schlecht. Einmal ist sie mir beim Spazieren kollabiert. Das brauch ich nicht noch einmal. Also ich gehe ohne Begleitung. Bei der Hütte frag ich den Hüttenwirt wie weit es noch bis zum Gipfel ist. Bei meiner Geschwindigkeit nur mehr 2 Stunden. Ich hätte eine gute Kondition, meint er. Und ich könnte gleich noch einen weiteren Zweitausender besteigen. Der liege auf dem Weg. Na gut. Die Natur ist hier oben am Erblühen. Die Alpenrosen, der Enzian und viele kleine Blumen zeigen ihre Pracht. Der Weg erinnert mich an mein Leben. Steil bergauf, dann Blumen, dann Karstgebiet und Felsen. Der Hüttenwirt hat Recht. In gut zwei Stunden habe ich zwei Zweitausender erklommen. Die Aussicht ist herrlich: das ganze tote Gebirge vom kleinen Priel bis zum Dachstein, Grimming und weit ins Tauerngebirge hinein.

Schöpfer, ich danke dir für deine Schöpfung, für die Berge und Täler, für die Pflanzen und Tiere, für die Sonne und den Wind und die Wolken. Ich danke dir für die Menschen, die mir begegnen.

Ein paar Tage später wird die Müdigkeit noch stärker. Schmerzen in den Gelenken kommen dazu. Überanstrengung? Das hatte ich noch nie. Ich verbringe viel Zeit im Bett. Meine Hände werden von Tag zu Tag steifer. Ich kann kein Brot mehr streichen. Die Teetasse zu heben ist unmöglich. Meine Hände sind geschwollen. Bald kann ich nicht mehr arbeiten. Der eine Arzt sagt, es ist ein Virus. Der andere sagt, es ist keiner. Sie sind hilflos. Ich am Zusammenbrechen. Ich nehme meine Therapie wieder einmal selber in die Hand. Leider ohne Erfolg. Es beginnen Anfälle von Schwäche im Bein. Stell dich nicht so an! Sage ich zu mir. Geh einfach normal. Ich stürze zu Boden. Nicht nur einmal. Zuerst verschweige ich diese Zustände. Dann erfährt es mein Internist. „Mir steigt die Grausbirne hoch!“ sagt er entsetzt. Ich muss ins Krankenhaus. Es gibt einen Verdacht. Aber nur ein Verdacht. Weitere Untersuchungen. Anfälle. Ich hoffe, dass es keine gefährliche Krankheit ist.

Heute habe ich Angst. Ich will leben. Warum sollte ich plötzlich krank sein? Das gibt es doch gar nicht! Ich war doch vor kurzem noch auf zwei 2000er! Gott, in deine Hände lege ich mein Leben. Bitte begleite mich durch das dunkle Tal. Ich bin erst am Anfang. Das spüre ich. Irgendwie bin ich noch in einem Schockzustand. Ich kann mit niemanden darüber reden. Vielleicht morgen. Alles wird gut. Und irgendwann besteige ich wieder einen 2000er.